15
Jan
2010

Oh Chihuahua…


Beim Vorbeigehn konnte ich, wenn der Lamellenvorhang nicht ganz vorgezogen war, einen Blick auf seine dunklen langen Haare (die meist zu einem Zopf gebunden waren), sein männlich - markantes (und sehr ansprechendes) Gesicht und sein steiles Outfit (zu dem meist eine schwarze Lederhose gehörte) machen. Ganz unauf- und zufällig natürlich. Er saß an einem Computertisch und die Scheibe hinter der er saß, reichte fast bis zum Boden, Ganzkörperbild also. Seine Betrachtungszeiten waren allerdings auf den Vormittag beschränkt, Arbeitszeit halbtags. In der Früh, lenkten mich meine Schritte automatisch an dem Computerfenster vorbei, mit dem gänseblümchenartigen Orakel in meinem Kopf – ist er da, ist er nicht da, ist er da…ist er…wird er herausschaun…wenn ja, wie und wohin schaue ICH dann? Schaue ich schnell weg…schaue ich hin…Lächelblick?…Coolblick? Mein Herzschlag beschleunigte sich proportional zur Fensternähe…dann…nur aus den Augenwinkeln...kurz hin geschaut…pfuh…Glück gehabt, noch nicht da…oder schon da, aber angestrengt in den Computer starrend…oder Vorhang ganz zu…es war wie eine Peepshow für Arme.

Eines Tages geschah das Unabwendbare…er blickte mich an…und…was noch viel aufregender war…er blickte mir NACH…ich sah es genau…so genau, wie frau aus be- oder besser aus ge-troffenen, zu Boden gerichteten Augenwinkeln gerade noch sehen konnte. Ab diesem Tag war das Vorbeigehen noch weitaus spannender…es wurde zu einem Thriller, meinem ganz persönlichen. Aber es wurde auch anstrengender, denn nun galt es, kurz vor der Scheibe, Haltung (Brust heraus, Bauch hinein, Rücken gerade) anzunehmen und bis nach der Scheibe zu bewahren. Die allmorgendliche Frage: „Was ziehe ich an!?“ schwoll an zu der Wichtigkeit einer Überlebensfrage.

Zuerst lächelte er tagelang nur, das war schon fast unerträglich…aber dann warf und schüttelte er plötzlich sein langes Haar, just in dem Moment, wo mein Schatten schon den Fensterrahmen berührte…was ich als ein sicheres Zeichen seiner endgültigen Interessensweckung wertete. Ich ging natürlich jeden Tag exakt zur gleichen Zeit vorbei und er schaute natürlich exakt zur gleichen Zeit aus dem Fenster…alles immer noch völlig zufällig, versteht sich.

Und es hätte noch ewig so weiter gehen können…ewig…wenn nicht…ja, wenn ich nicht einmal an einem Wochenende sehr früh und etwas angeheitert, aus der anderen Richtung kommend, an seinem Fenster vorbei getorkelt wäre. Der Vorhang war ganz zurückgezogen, die Straßenlaterne beleuchtete den Schreibtisch, auf dem Schreibtisch lag der Ausdruck einer E-Mail-Nachricht. Und ich wusste, dass bei solchen Ausdrucken meistens der Empfängername ganz oben und fett gedruckt zu lesen ist. Ich presste mein Gesicht bzw. mein rechtes Auge an die Scheibe und tatsächlich…ich konnte, wenn auch mit großen Anstrengungen, einen Namen entziffern. Mit diesem Namen ging ich dann nach Hause und schlief auch mit ihm ein. Was ich damals träumte, weiß ich nicht mehr, aber als ich aufwachte, wusste ich genau, was ich mit dem Namen anfangen würde.


Sitzen Sie in der Auslage?


Es lebe das Internet und alle seine Gesetzmäßigkeiten. Am nächsten Morgen im Büro, musste ich nur den Namen der Firma, in der er beschäftigt war (die Tafel am Eingang des Gebäudes war ja nicht zu übersehen), in die Suchmaschine eingeben. Er arbeitete für einen weltweiten Konzern. Schnell war die österreichische Niederlassung gefunden und auch die Gasse, durch die mein langhaariger Jüngling kommen musste. Ich verfasste eine Nachricht mit folgendem Inhalt: Sehr geehrter Herr....! Sitzen Sie in der Auslage? Wenn nicht, dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Mit freundlichen Grüßen....“ Den wohl gehüteten Namen setze ich vor die sorgfältig recherchierte Internet-Adresse der Firma und „ab ging die Post“. Was sollte schon passieren?

Mit Spannung starrte ich auf die rechte untere Ecke meines Bildschirmes, in der Erwartung des kleinen gelben Kuverts, das die Ankunft einer Nachricht anzeigt. Als es endlich auftauchte, klopfte mein Herz bis zum Hals und mein rechter Zeigefinger schwebte sekundenlang über der Taste, die den Posteingang öffnet. Klick.

Da stand: „Äh, jaaaa...könnte man so sagen“. Ich fragte weiter, ob er lange Haare hat und ob sich diese „Auslage“ in besagter Straße befindet. Auch das bejahte er, doch er wollte, verständlicher Weise, endlich wissen, woher ich all diese Informationen hatte und wer ich eigentlich bin. Ich kostete seine Neugier weidlich aus und freute mich diebisch, dass mein „Schachzug“ geglückt war. Nach zwei/drei Mails lüftete ich dann mein Geheimnis. Verschiedene Nettigkeiten und Geplänkel gingen hin und her, er (und auch ich selbst) bewunderte meinen Einfallsreichtum und meinen Mut, musste dann aber die Korrespondenz abbrechen, da er, wie ich ja bereits geahnt hatte, nur halbtags arbeitete. Schade.

Doch dadurch hatte ich Zeit, meinen Puls wieder auf eine normale Geschwindigkeit zu drosseln, meine Phantasie schweifen zu lassen und mir Dummheiten auszudenken. Zu Hause angekommen, hatte ich dann nichts Besseres zu tun als mich wieder hinter den Computer zu klemmen um eine weitere Suchaktion nach meiner „Schaufensterpuppe“ zu starten. Und zwar über ein bekanntes Kommunikationssystem in dem ich bereits Freunde aus aller Welt hatte. Diese Freunde findet frau auf verschiedene Weise, eine davon (wenn auch eine mit sehr geringer Erfolgsaussicht) ist, den Namen der gesuchten Person in das System einzuspeisen. Egal, probieren geht über studieren. Das war an diesem Tag ja schließlich schon einmal ein erfolgreiches Rezept gewesen. Und BINGO!

Ich fand ihn auch hier und er war sogar online (was heißt, dass er wahrscheinlich auch gerade vor dem PC saß). Als ich ihn „ansprach“ war seine Verblüffung perfekt! (Und ich dachte nach, ob ich nicht vielleicht eine zweite Laufbahn als Detektivin beginnen sollte). Die Unterhaltung ging nun munter weiter bis zu dem Satz, der unserer „Beziehung“ eine komplette Wende gab. Ich weiß nicht, wie wir darauf zu sprechen kamen, aber es ging plötzlich um Hundeausstellungen und da schrieb er: „Ja, ich kenne das, meine Frau und ich gehen schon seit Jahren mit unserem Hund auf Ausstellungen“. Das Wort „Frau“ versetze mir bereits einen kleinen Stich, aber wie ein ganzer Messerblock in meinem Rücken wirkte seine Antwort auf meine Frage nach der Hunderasse: „Einen süßen kleinen Chihuahua haben wir, Shila von der Rabenmühle, heißt sie....“. Lange Zeit saß ich bewegungslos vor dem Bildschirm und starrte auf diesen Satz. Ich stellte mir seine langen, lederbehosten, in Bikerboots steckenden Beine vor, daneben ein Chihuaha Hündchen trippelnd, mit der dazugehörigen blonden, rosa Tussi an der Leine. Ich weiß...ich weiß...Vorurteile!

Nun, was soll ich sagen? Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich eigentlich nur große Hunde mag, wurde das Gespräch sehr einsilbig und mein Computer hatte bald darauf einen „plötzlichen“ Stromausfall. Als ich die nächsten Tage, auf der gegenüber liegenden Straßenseite, an seinem Fenster vorbei ging, war er um besagte Zeit immer ganz angestrengt in seine Arbeit vertieft. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass ich demnächst mit meinem großen, großen Schäferhund vor seiner Wohnungstüre auftauchen würde...


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